Mit dem Schlusspfiff waren die Anstrengungen auf Flensburger Seite vergessen, während sich die Lübecker Spieler enttäuscht und kraftlos in das gepflegte Grün fallen ließen. Der SC Weiche Flensburg 08 hatte eine so kuriose, seltsame Saison zu einem höchst erfolgreichen Ende gebracht. Monatelang hatte man mit der Situation gehadert, aus einer nahezu perfekten Spielzeit mit acht Siegen aus neun Ligaspielen nichts mitnehmen zu können. Nach dem fraglos alternativlosen Abbruch der Regionalliga-Saison lagen die Hoffnungen auf dem SHFV-Lotto-Landespokal, aber die Zweifel waren selbst im April und Mai noch groß, ob denn der diesjährige Wettbewerb überhaupt fortgesetzt und beendet werden könne. Der SHFV ging ein Wagnis ein – und wurde am Ende wie der SC Weiche Flensburg 08 belohnt. Fehlt eigentlich nur noch, dass die Worte des SHFV-Präsidenten wahr werden würden. Uwe Döring erinnerte in seinem Statement auf der offiziellen Pressekonferenz nach dem Finale daran, dass man bei Weiche seit Jahren kontinuierlich sehr gut arbeitet und sich der Verband freuen würde, wenn es einen Drittligisten aus Flensburg geben würde.
Während die Offiziellen beider Seiten den SHFV für das Finden einer sportlichen Lösung gratulierten und ihm für die unter den Umständen sehr guten Rahmenbedingungen im Uwe-Seeler-Fußballpark dankten, tobten sich unsere Jungs mit ihren vor Ort weilenden, glücklichen Fans aus. Besonders stolz und freudestrahlend lief Martin Paustian Pitter über die Anlage. Gemeinsam mit den anderen Dänen in unserer Mannschaft – Jacob Andersen, Mathias Andersen und Casper Olesen – ließ er sich mit dänischer Nationalflagge über der Schulter und schleswig-holsteinischem Landespokal in den Händen ablichten, und zwischendurch gab er Interviews. Der 22-Jährige, der Flensburg für ein Studium in Kopenhagen verlassen wird, war schon vor dem 120-minütigen Kraftakt optimistisch und gesprächig. Einen neuen Verein habe er noch nicht, aber seine Vorstellungen und lose Anfragen, sagte er da, und auf Nachfrage ergänzte der immer gut gelaunte Mittelfeldspieler auch, dass er fit für das heutige Spiel sei. In den vorangegangenen beiden Pokalspielen bei Kilia Kiel (5:1) und in Todesfelde (2:1) war er nicht berücksichtigt worden. Nun war er in den Kader gerückt, weil es bei Marcel Cornils partout nicht ging. „Corni“ hatte sich im Viertelfinalspiel in Kiel eine Wadenverletzung zugezogen. Doch wer ahnte vor dem Finale, dass Martin Pitter der „Matchwinner“ werden würde? Nach der Partie strahlte unsere Nummer 32 mit der erbarmungslosen Sonne um die Wette: „Das war perfekt. Ich konnte mir keinen besseren Abschluss wünschen.“ Und dann schilderte er aufs Neue, wie er das entscheidende Tor erzielt hatte: „Torge wirft ein, Jonah verlängert mit dem Kopf, ich stelle meinen Körper rein, bekomme den Ball gegen den Kopf, treffe dann den Pfosten und dann geht der Ball rein.“
Nach dem Abpfiff und dem ersten spontanen Jubel hatte sich die Mannschaft – wie immer – zu einem Kreis zusammengefunden. Harald Uhr, Geschäftsführer Finanzen, ergriff das Wort und zeigte seinen Stolz auf die Mannschaft, die der Trainer Thomas Seeliger danach als „geile Truppe“ bezeichnete. Später, auf der offiziellen Pressekonferenz, würdigte der Fußballlehrer auch den traurigen Verlierer, weil ein Endspiel auch immer beide Seiten und nicht nur glückliche Gewinner hat. Vielen Flensburger Akteuren musste man das wohl kaum erklären. Die Weiche-Urgesteine Patrick Thomsen und Jonas Walter, aber auch Florian Meyer, Ilidio Pastor Santos, Florian Kirschke oder Torge Paetow und Finn Wirlmann ... sie alle kennen das Gefühl, mindestens gleichwertig gewesen zu sein und doch ein Finale verloren zu haben: Insgesamt dreimal erging es Weiche auf der Lohmühle gegen den VfB Lübeck so (2012, 2016, 2019) und dann gibt es da noch den Inbegriff der tragischen Endspielniederlage, als Weiche 2014 bei Holstein Kiel in einem abendfüllenden Elfmeterschießen gegen den heutigen Zweitligisten mit 12:13 verlor, nachdem es zuvor nach 120 Minuten 1:1-unentschieden gestanden hatte. Und doch: Die „Adlerträger“ vom 1. FC Phönix, unter ihnen der Ex-Flensburger Fabian Graudenz, waren selbstredend unglücklich. Sie hatten einen großen Kampf geliefert, und jeder Flensburger hatte das anerkannt. Zu Recht sangen die Lübecker Fans: „Wir sind stolz auf unsere Jungs, Phönix Lübeck ...“
„Auf alles waren wir vorbereitet“, meinte mitten im Freudentaumel unser Torwarttrainer Jan Neujahr, „selbst auf ein Elfmeterschießen.“ SC-Torhüter Florian Kirschke wäre über jeden möglichen Lübecker Schützen und dessen Lieblingsecke informiert worden. Dann aber war sich Jan Neujahr nicht mehr ganz so sicher, ob denn die potentiellen Schützen aus der eigenen Mannschaft nicht schon mehrheitlich ausgewechselt waren. Die Frage war hinfällig, weil ein Däne, der Flensburg nun verlässt, offenbar keinen Bock auf ein zusätzliches Nervenspiel hatte. Dabei hatte es Weiche ohnehin schon unnötig spannend gemacht, wie – ganz entspannt – unser Co-Trainer „KaPe“ Nemet bemerkte. Der Routinier schmunzelte vielsagend und ergänzte: „Am Ende ist alles egal. Wenn Du den Pokal gewinnst, hast Du letztlich alles richtig gemacht.“ Als diese Worte fielen, war auch der Fahrer des Weiche-Mannschaftsbusses, Holger Jessen, emotional ganz dabei und im schwarzen Pokalsieger-Trikot gekleidet, nachdem er zuvor noch etwas mitgenommen wirkte, weil seine SG Flensburg-Handewitt an diesem Sonntagnachmittag so denkbar knapp die deutsche Handballmeisterschaft verpasst hatte.
Aber nach dem Pokalsieg ist bekanntlich vor dem nächsten Pokalspiel. Harald Uhr, Geschäftsführer Finanzen, erklärte begeistert, dass das Vereinsheim zur Pokalauslosung am kommenden Sonntag (ab 18.30 Uhr live in der ARD) geöffnet sein werde und er sich viele Weiche-Fans vor Ort wünschen würde – aber auch manche Spieler. Und beinahe unbemerkt wurde im Rahmen des diesjährigen Landespokalendspiels in der Halbzeitpause auch die erste Runde für die kommende Saison ausgelost. Es gibt kein Erbarmen für den frischgebackenen Pokalsieger – er muss ran und das mit einem der weitest möglichen Auswärtsreisen. Das Unterfangen Titelverteidigung wird im Achtelfinale mit einem Spiel beim noch nicht ermittelten Pokalsieger des Kreisfußballverbandes Herzogtum Lauenburg beginnen. Und da schließt sich der Kreis. Wer erinnerte sich am frühen Abend des zweiten Landespokaltriumphes des SC Weiche Flensburg 08 schon daran, dass die Pokaltour diesmal am 4. Oktober 2020 mit einem souveränen 6:0-Sieg beim ETSV Fortuna Glückstadt begonnen hatte?